Lesermeinungen zur geplanten Wiedereinführung der Kantiprüfung
Leserbriefe in der Zuger Zeitung vom 10.7.2024 erschienen
Zu den Plänen des kentonalen Bildungsrats.
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Mirjam Küng, Hünenberg
Ich möchte meine Bedenken zur Einführung einer Kantiprüfung äussern. Als langjährige Primarlehrperson und Mutter zweier Kinder, einem in der Sekundarstufe 1 und einem in der Primarschule, sehe ich die Herausforderungen und Chancen des Übertrittssystems aus beiden Perspektiven.
Chancengleichheit ist bereits heute nicht gegeben. Jeder Schüler hat individuelle Voraussetzungen und Talente. Das Bildungssystem sollte darauf abzielen, gleiche Chancen für alle zu schaffen, unter Berücksichtigung dieser Unterschiede. Die soziale Selektivität des Schweizer Bildungssystems ist ein kritischer Punkt.
Die Idee einer Kantiprüfung erinnert mich an das Züricher Modell. Schüler und Schülerinnen aus reichen Familien können sich Nachhilfe leisten, während andere Schichten benachteiligt sind. Primarlehrpersonen tragen vielfältige Verantwortung – von der Integration bis zur sehr herausfordernde Elternarbeit, Administration und individualisiertem Unterricht, um einige Punkte von unserem Beruf zu nennen. Noten allein erfassen nicht die gesamte Entwicklung und Intelligenz eines Kindes.
Jedes Kind hat einzigartige Talente, die sich nicht in einer Note ausdrücken lassen. Überfachliche Kompetenzen, wie soziale Intelligenz und Kreativität sind genauso wichtig, damit man im Leben bestehen kann. Primarlehrpersonen leisten einen grossartigen Job im Übertrittsverfahren. Die Rücklaufquote von der Kantonsschule zur Sekundarschule liegt bei etwa 2 Prozent.
Zukunftsorientierte Ansätze sind entscheidend. Wollen wir wirklich einige Schritte in der Bildungspolitik zurückgehen? Kinder haben leider keine Lobby. Weshalb fragen wir nicht die Kinder, was sie möchten? Sie sind unsere Zukunft & die Erwachsenen überstimmen sie stets. Der Lehrplan 21 betont die überfachlichen Kompetenzen. Die Argumente von Eva Maurenbrecher und Urban Bossard sollten kritisch hinterfragt werden. Bildungsentscheidungen sollten auf soliden Erkenntnissen und zukunftsorientierten Ansätzen beruhen. Die kontinuierliche Evaluation und Anpassung von Bildungspolitik ist entscheidend, um die bestmögliche Entwicklung unserer Schülerinnen & Schüler sicherzustellen.
Jörg Berger, Zug
Mit einer Aufnahmeprüfung an die Kantonsschule werden keine Probleme gelöst, aber viele neue geschaffen. Ich bin seit 17 Jahren Rektor einer Zürcher Schule und erlebe die unliebsamen Nebenwirkungen, auf die in Zug niemand gewartet hat. Das vom Bildungsrat vorgeschlagene Übertrittsverfahren stärkt weder die Berufslehre noch die Sekundarstufe. Eine Prüfung ist kein geeignetes Mittel, um das Potenzial der Kinder für die nachfolgende Bildungsstufe abzuschätzen. Die bereits jetzt bestehende überdurchschnittliche Bildungsbenachteiligung in unserem Kanton wird verschärft.
In Zug entsteht eine Nachhilfeindustrie, wie sie bereits in Zürich existiert – mit all ihren Nachteilen. Eltern mit entsprechendem Portemonnaie werden alles daransetzen, dass ihre Kinder top vorbereitet zur Prüfung erscheinen. Kinder von eher bildungsfernen Eltern mit gleicher Schulleistung haben erwiesenermassen eine mehrfach geringere Chance auf Erfolg. Es muss angenommen werden, dass genau sie vom akademischen Weg abzubringen sind und die Sekundarschule besuchen.
So klingt es für mich wie ein Hohn, wenn der Bildungsrat von der Sek als Königsweg spricht. Es wird genau gegenteilig sein: Das Prüfungselement verstärkt den Eindruck, dass der gymnasiale Weg der begehrteste und beste sei.
Damit bescheren wir dem Zuger Gewerbe einen Bärendienst. Wenn wir die Sekundarschule und damit die Berufslehre stärken wollen, dann lohnt es sich, über zwei Dinge nachzudenken: Sollen wir nicht besser den Primarlehrpersonen einen standardisierten Test für alle Kinder zur Verfügung stellen, um ihre gute Urteilskraft zu bestärken?
Sollen wir die hoch selektive Gestaltung der Sekundarschule im Kanton Zug mit vier verschiedenen Leistungszügen inklusive eines Langzeitgymnasiums doch nochmals grundsätzlich hinterfragen, um zu einer befriedigenden Lösung zu gelangen? Was es braucht, sind Dialog und eine Portion Mut. Dass der Zuger Bildungsrat nur die einfältige Idee einer Zulassungsprüfung in die Vernehmlassung schickt, ist ein Armutszeugnis und spricht leider nicht für seine Kompetenz. Note: ungenügend.
Elian Zürcher, Zug
Die Kantonsschule Zug weist eine geringe Abbruchquote auf. Kinder, die bisher prüfungsfrei ans Gymnasium gelangt sind, wurden folglich zurecht aufgenommen. Aus entwicklungspsychologischer Sicht ist es wichtig, Kinder auf ihrem Leistungsniveau adäquat zu fördern, um negative Auswirkungen auf Motivation und Leistungsbereitschaft zu verhindern. Zur Messung des Leistungsniveaus ist die Einschätzung von Lehrpersonen, die das Kind über einen längeren Zeitraum unterrichten, klar aussagekräftiger als eine einmalige Prüfung. Intelligenz und kognitive Fähigkeiten sind in der Persönlichkeit relativ stabile Merkmale. Bei einer einmaligen Übertrittsprüfung werden Kinder jedoch vor allem in ihrer Stresstoleranz gemessen. Der Verlauf der kommenden Jahre wird von einem Stichtag abhängig gemacht. Ein Kind im Alter von 12 Jahren darf in seiner Persönlichkeit noch reifen. Die Entwicklung des Frontalhirns und somit der Stressregulationsfähigkeiten ist nicht vor einem Alter von rund 25 Jahren abgeschlossen. Haben Kinder einen schlechten Tag oder haben sogar Prüfungsangst, so können sie ihre Leistung vielleicht nicht angemessen zeigen. Soll sich dies wirklich auf die weiteren Bildungsjahre auswirken? Es entsteht enormer Druck, was zu einer selbst generierten Nachhilfeindustrie führt, derer man zwangsläufig verfällt, wenn das Kind alle Chancen haben soll (siehe das Beispiel Zürich).
Wieso sollte eine Benotung anhand der gängigen Fächer im Laufe des Schuljahres plötzlich nicht mehr ausreichend sein zur Beurteilung? Wollen wir in Zeiten von steigender Anzahl psychischer Auffälligkeiten wie Angststörungen und Depressionen bei Kindern und Jugendlichen den Druck auf das Leben dieser jungen Menschen wirklich derart erhöhen? Ich meine Nein und befürworte klar den weiterhin prüfungsfreien Übertritt ans Gymnasium im Kanton Zug.